« Staunen ist der erste Grund der Philosophie. » Aristoteles


Sind Reinkarnation und christlicher Glaube miteinander vereinbar?


In unserer Zeit glauben immer mehr Menschen an die Reinkarnation. Sie sind davon überzeugt, daß der Mensch nach einem Aufenthalt im Jenseits immer wieder auf die Erde zurückkehrt. Ursache dafür sei die karmische Notwendigkeit. „Karma", ein Sanskrit-Begriff, hat die Bedeutung von „tun", „handeln" und meint hier die Wirkung, die Folge eines Tuns. Ist das Handeln eines Menschen dieser Welt verhaftet, sei es durch Begierden, Haß und so weiter, drängt die eigene Seele nach dem Tod zur Rückkehr in diese Welt. Erst dann, wenn in einem Erdenleben alle Verhaftungen gelöst, wirkliche Losgelöstheit erreicht wurde, ist eine Rückkehr in diese Welt nicht mehr notwendig. Sie kann aber weiterhin freiwillig erfolgen, um anderen Menschen bei der Loslösung zu helfen. Gute Taten schaffen nach dem Glauben der Reinkarnationsanhänger bessere Schicksalsvoraussetzungen in den folgenden Erdenleben, während schlechte Handlungen entsprechend negative Bedingungen verursachen.
Nach Ansicht vieler Theologen (Frei, Küng, Aichelin, Hummel und andere), die sich mit der Reinkamationsproblematik auseinandergesetzt haben, seien Christentum und Reinkarnation unvereinbar. Diese Auffassung kann ich nicht teilen. Sie steht meines Erachtens auf sehr schwankenden Füßen. Im Rahmen eines Aufsatzes kann ich natürlich nicht auf die sehr divergierenden Argumente der Reinkarnationsgegner Im theologischen Lager eingehen. Vielmehr möchte ich skizzenhaft aufzeigen, daß die Reinkarnationsthematik keinen Widerspruch seitens der Bibel erfährt, ja ihr sogar implizit zu sein scheint.

Herkunft der Seele klären
Von entscheidender Bedeutung für die Frage nach der Wiederverkörperung (Reinkarnation) ist die Frage nach der Herkunft der Seele. Der Kreatianismus, von der katholischen Kirche als verbindlich gelehrt, besagt, daß Gott jede einzelne Seele aus dem Nichts erschaffe und mit den durch Zeugung verschmolzenen elterlichen Zellen verbinde. Der Traduzianismus (oder auch „Generatianismus" genannt) lehrt die Leib-Seele-Einheit und leistet damit der Ganztodtheorie Vorschub. Die Seele entstehe durch die Zeugung und vergehe - zumindest nach der Ganztodtheorie - mit dem Tod. Dieser Materialismus hat meiner Meinung nach keinerlei biblischen Rückhalt. Für unsere Fragestellung kommt deshalb nur der Kreatianismus in Betracht.
Unverständlich bleibt bei dieser Anschauung allerdings, was Gott veranlassen könnte, einmal gute und schöne Seelen zu schaffen und ein andermal offensichtlich böse und mißgebildete?! Es ist ja eine offensichtliche Tatsache, daß Menschen mit geistig-seelischen Defekten geboren werden und herausragende psychische Eigenschaften (zum Beispiel Autismus) schon im Kleinkindalter auftreten. An der Ratlosigkeit gegenüber solchen Fragen und denen nach dem schicksalhaften Umfeld scheiterte bisher jegliche Theodizee.
Ganz anders wird es, wenn man klar zwischen der Vollkommenheit Gottes und des Menschen Verderbtheit unterscheidet. Dann ist es allerdings unmöglich, daß Gott unvollkommene Seelen schafft. Der Kreatianismus behielte seine Gültigkeit lediglich für den Anfang der Menschheitsgeschichte.

Widersprüchliche Tendenzen machen Ausgleich erforderlich
Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde und Gleichnis (Gen. 1,26), also doch sicher auch als „reine Seele", als „unbeschriebenes Blatt", also ohne besondere charakterliche Prägung und von Wissen und Erfahrung noch unberührt. Erst nachdem die Menschen in die Welt entlassen wurden und namentlich nach dem Sündenfall (Gen. 3), als sie in die Lage versetzt wurden, ihr spezielles Verhältnis zu Welt zu finden, konnten sich durch diese Wechselwirkung Charaktere und Individualitäten entwickeln. Als „Eigentum der Seele" bleiben diese „Spezifika" vom physischen Tod unberührt (Lk. 16, 19-26). Die Seele, nun erst wahrhaftig individuell geworden, kehrt damit aber nicht zu ihrem Ursprung zurück. Nicht alles, was in ihr lebt, kann das Licht vertragen. Auch sind in ihr widersprüchliche Tendenzen vorhanden, ja entstehen zum Teil erst jetzt, und machen einen Ausgleich erforderlich.
An Jesu Erzählung vom reichen Mann und armen Lazarus (Lk. 16,19-31) möchte ich das verdeutlichen: Als Folge seines selbstbezogenen, in irdischen Vergnügungen aufgehenden Lebens leidet der reiche Mann im nachtodlichen Dasein (V. 23), während der arme Lazarus „getröstet wird" (V. 25). Dieser Vorzug des Lazarus wird nicht religiös im Sinne echten Glaubens und Lebens begründet, sondern nur damit, daß es ihm im irdischen Leben schlecht erging (V. 25). Ihm war das irdische Leben eine Läuterung, die ihn von Begierden (weitgehend) befreite, da er ohnehin auf keine Erfüllung hoffen konnte. Der Tod befreite ihn von seinen Leiden. Er war für Ihn eine Erlösung, während der reiche Mann an seinen Vergnügungen hing (Mt. 6,21), an deren Ausübung er nun gehindert war. Das bereitete ihm die Qual. Aber weder der reiche Mann noch der arme Lazarus waren völlig böse beziehungsweise gut. Die Entwicklung beider kann deshalb noch nicht zu Ende sein.
Vielmehr wird, ausgelöst durch die Qual, beim reichen Mann ein selbstloser Impuls offenbar (V. 27). Es beginnt sich also Gutes in ihm zu entwickeln. Kann auch im Jenseits die Kluft nicht überschritten werden (V. 26), so kann sie es doch im Erdenleben. Sollte Gott dem Menschen diese Chance verweigern, solange noch ein Fünkchen Hoffnung ist? Die Antwort darauf ist sicher „nein"! (Jes. 42,3; Mt. 12,20)

Strukturierte Seelen prägen das genetische Material
Solange der Mensch nicht völlig im guten oder bösen vollendet ist, kämen, also auch im biblischen Sinne, Seelen in die irdische Verkörperung, die ihre in früheren Erdenleben begonnene Entwicklung fortsetzen oder eine neue Richtung einschlagen. Wir hätten es in jedem Fall mit bereits strukturierten Seelen zu tun, mit Seelen, die bereits gewisse Veranlagungen, Dispositionen, Impulse auf Grund ihrer bisherigen Erfahrungen in irdischen und nachtodlichen Leben mitbringen. Von ihnen würde das genetische Material geprägt. Exemplarisch wird das an biblischen Gestalten deutlich, bei denen der
Lebenslauf schon vor der Geburt eben durch jene Prägungen in einem gewissen Rahmen prädestiniert ist (Gen. 25, 22-26; Jer.1,5; Lk. 1,13-17).
Die Reinkarnation kann aber nicht nur von der Herkunft des Menschen, sondern auch vom Ziel biblisch begründet werden. Das Ziel ist die Aufhebung des Todes (1. Kor. 15, 26), der nach der Bibel kein biologisches Problem ist, sondern durch die Sünde herrscht (Rö. 5, 12, 17, 21). Der Mensch ist „tot" in "seinen Übertretungen und Sünden" (Eph. 2,1) und erleidet als deren Wirkung auch den physischen Tod. Zum besseren Verständnis muß ich kurz das Geschehen beim Sündenfall (Gen. 3) streifen.

Erkenntnistrieb richtete sich auf das Nicht-Seiende
Der Mensch erkannte das Da-Seiende (Gen. 2,20.23). Das war das Gute, Erlaubte. Der Tod an sich hat kein Sein und damit auch kein Da-Sein. Der Erkenntnistrieb des Menschen war auf das Nicht-Seiende gerichtet, nachdem er das Da-Seiende erkannt hatte (Gen. 3,6). Doch wo nichts ist, kann auch nichts erkannt werden. Das fällt uns heute leicht zu sagen. Für den damaligen Menschen bedeutet es eine existentielle Krise, unter der wir heute noch zu leiden haben. Warum? Nichts erkennen zu können und nicht begreifen können was das ist, nicht zu erkennen, war ein Schock.
Der Mensch stand plötzlich einem Fremden gegenüber, das er sich „rational" nicht erklären konnte. Es war für ihn das schlechthin Irrationale. Sein Erkennenkönnen, das bisher immer „funktionierte", versagte plötzlich. Dadurch fühlte sich der Mensch, dessen Existenz sich als Erkennender vollzog, ohnmächtig, „nackt". Die Wirkung' war eine irrationale Angst, die sich auf alles und jedes erstrecken konnte. Die „Urangst", die „Todesfurcht" war in ihm geboren und hielt ihn in Knechtschaft (Hebr. 2,15). Das Leben selbst ist Bejahung (sonst wäre es nicht).
Furcht ist Verneinung. Mit der Furcht bekommt der bis dahin nichtexistierende Tod eine gewisse Realität. Sie besteht darin, daß die sich ängstigende Psyche - durch die Angst selbst schon im Gegensatz zum Leben - der Bewußtseinstrübung (Finsternis) verfällt. Durch Bestrebungen und Absichten, die nicht mit dem eigenen Organismus und der Umwelt harmonieren, verursacht sie Störungen im eigenen Organismus (= Krankheiten) und der Umwelt.
Diese Disharmonie bewirkenden Inhalte der Seele sind die „Übertretungen und Sünden" (Eph. 2, 1). Heil an Leib und Seele kann deshalb der Mensch nur dann werden, wenn den sündigen Inhalten der Seele die Grundlage entzogen wird. Dann sterben sie ab. Es kommt nicht mehr zu Handlungen, die Disharmonie bewirken.



Die Lösung des Todesproblems
Prinzipiell ist der Sünde durch Jesu Triumph über den Tod die Basis entzogen worden. Sinnenfällig wurde durch die Auferstehung gezeigt, daß der Tod eine Illusion, eine Lüge ist, die freilich solange wirksam ist, solange sie nicht als solche durchschaut wird. Jesu Tod und Auferstehung bedeutet deshalb Lösung des Todesproblems und damit Er-lösung des Menschen.
Diese wird für die Seele allerdings nur dann manifest, wenn der Glaube an die Erlösung höchste Priorität gegenüber allem Innerweltlichen bekommt und so
die unbewußte Fixiertheit der Seele auf die Angst löst (Mt. 6,21; Joh. 16,33; Kol. 3,2). Die Erfahrung zeigt, daß dieser Prozeß der Wandlung in der Regel nicht in einem Erdenleben abgeschlossen ist.
Über die real von allen sündigen Inhalten befreite Seele vermag schließlich der Geist Gottes den physischen Leib in die Verwandlung einzubeziehen. Der Auferstehungsleib wäre schließlich das Ende auch des physischen Todes.
Nach meinen Ausführungen erwiese sich die Reinkarnation auch im biblischen Sinne als Rahmen des Daseins, in dem der Weg zum Heil oder zum Unheil beschritten und das Ziel erreicht werden kann.
Sind die Polaritäten innerhalb eines Menschen beseitigt, das heißt, wäre er realiter im Guten oder Bösen vollendet, gäbe die Reinkarnation keinen Sinn mehr. Sie hätte dann für ihn persönlich ein Ende.

© M.R.


http://geheimnisdesmenschen.blogspot.com/2008/06/buch-zum-thema-reinkarnation.html

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